Alle Jahre wieder …

Alle Jahre wieder sind am Heiligabend unsere Kirchen sehr gut gefüllt. Da kommen auch viele Mitmenschen, die sonst selten oder gar nicht in den Gottesdienst gehen. Ich freue mich darüber. Selbst viele, die der Kirche per Austritt den Rücken gekehrt haben, sehen wir dann wieder.

Offensichtlich finden die Menschen an diesem Abend in den Kirchen etwas, was ihnen irgendwie gut tut, wonach sie sich sehnen. Da muss etwas spürbar sein, was sie zutiefst innerlich anrührt: Die Stimmung, die Lichter in der Dunkelheit; Worte, die Hoffnung wecken; Lieder und Musik, die zu Herzen gehen; Stille und Gebet. Vielleicht auch das Zusammensein mit anderen, die auch ihrer Sehnsucht auf der Spur sind, die mit dem Göttlichen in Berührung kommen möchten. Und außerdem kann man in der Kirche eine betende Gemeinschaft erleben, die einen mitträgt – in der jeder mit seinen Sorgen und Wünschen gut aufgehoben ist.

Und dann: Alle Jahre wieder das selbe Ritual. Der Gottesdienst ist fast zu Ende. Nach dem Segen gehen alle Lichter aus bis auf die am Weihnachtsbaum. Und alle singen: O du fröhliche, o du selige, gnadenbringende Weihnachtszeit! Welt ging verloren, Christ ist geboren: Freue, freue dich, h Christenheit!
Und oft sehe ich Menschen, die dabei um Fassung ringen oder auch hemmungslos weinen. Dieses Lied am Heiligen Abend öffnet alle Schleusen. Was einem das Jahr über widerfahren ist an Freude und Schmerz, meldet sich dann. Ich erinnere mich an Heiligabende, an denen gestandene Männer und Frauen dabei geweint haben. Früher habe ich nicht verstanden, warum im Gottesdienst am Heiligabend immer dieses selbe Lied gesungen werden muss. Heute weiß ich, wie wichtig es ist.

Dieses „O du fröhliche” stammt von einem Mann, der sich Anfang des 19. Jahrhunderts um verwahrloste Kinder gekümmert hat. Kinder ohne Eltern und ohne Zuhause. Von denen hat es damals wegen der Kriege viele gegeben. Johannes Falk hat dieses Lied 1813 getextet: Welt ging verloren, Christ ist geboren.
In diesem Jahr ist ihm tatsächlich seine Welt verloren gegangen. Vier seiner Kinder sind im Krieg umgekommen. Aber als er die „Gesellschaft der Freunde in Not” gegründet hat, ist er irgendwie noch einmal geboren worden. Nur eine Strophe, die erste hat Johannes Falk getextet.

Die anderen beiden Strophen stammen von Heinrich Holzscheiter. Dem ist mit 13 Jahren auch seine Welt verloren gegangen. Da beging sein Vater Selbstmord und seine Mutter hat ihn verlassen. Aber Johannes Falk hat ihn inspiriert und ihm geholfen, seinen Weg zu finden. Also hat er die zweite und dritte Strophe getextet.
Welt ging verloren, Christ ist geboren. Dieses Lied verdanken wir zwei Männern, denen die Welt verloren gegangen ist. Und die trotzdem ein neues Leben und ihre Freude wiedergefunden haben. O du fröhliche, o du selige, gnadenbringende Weihnachtszeit!

Deshalb ist und bleibt für viele, auch die, die längst mit Gott und der Kirche abgeschlossen haben, Heiligabend ein ganz besonderer Abend im Jahr. Da ahnen sie, dass man wirklich Welt verlieren und wiederfinden kann. Nicht nur zur Weihnachtszeit.

Gisela Kuhn